Leseprobe

1947 bestand ich auch die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. Mein Lehrer hatte mich empfohlen. Diese Schule, die „Alte Landesschule“ war 50 Jahre vor dem Aussegeln der Mayflower gegründet worden. In den 1970er Jahren feierte sie ihr 400-jähriges Jubiläum. Ich durchlief eine sechsstündige Aufnahmeprüfung, in der ich einen Aufsatz schreiben musste, Rechenaufgaben lösen, ein Diktat aufnehmen usw. Um drei Uhr nachmittags war mein Name auf der Liste derer, die die Aufnahmeprüfung bestanden hatten. Ich weiß nicht, wie ich das hinbekommen habe! Ich hatte nur zwei Jahre und ein paar Monate die Schule besucht und mich gerade so durchgewurstelt, während die anderen Kinder vier bis fünf Jahre Schule hinter sich hatten – und das ohne Bomben und einem Leben in Scheunen. Mündlich wurde ich in Arithmetik geprüft, und ich glaube, das war es, was mir den Eingang eröffnete. Ich begann im Herbst 1947 dort zur Schule zu gehen, und ich war mit Abstand die Jüngste in meiner Klasse. Viele Schüler waren ein, zwei oder drei Jahre älter als ich.

Ebenfalls im Jahr 1946 oder 1947 entschied sich mein Vater, sein eigenes Metzgergeschäft in Korbach zu eröffnen. Wir mieteten einen Laden gegenüber der alten Stadthalle. Er wurde gestrichen und eine Kältemaschine wurde in einem Hinterzimmer für die Kühlung angeschlossen. Eine Verkaufstheke gab es, und unser Zahnarzt gab meiner Mutter eine Waage für kleine Gewichte, die er in seinem Labor benutzt hatte. Kleine Gegengewichte, wie sie benutzt wurden bevor es automatische Waagen gab, kamen dazu. Meine Mutter war mit dieser Art Waage gut vertraut. Sie hatte den Umgang damit in ihrer Jugend gelernt und fühlte sich sicher. Der Betrieb meines Vaters befand sich in einer alten Scheune, und mein Großvater schnorrte Backsteine von der Firma, bei der er arbeitete, und mauerte einen Schornstein für den Rauchabzug. Hartholztische vollendeten die Einrichtung. Mein Vater kaufte einen alten Lastwagen, um Pferde von den westfälischen Märkten transportieren zu können und arbeitete fortan für sein eigenes Geschäft. Er stellte zwei Helfer ein, stand um drei Uhr in der Frühe auf und fuhr ins Westfälische. Die alten Lastwagenreifen platzten immer wieder, und er musste sich unter den Laster legen, die Reifen mit kleinen Gummistücken und Kleber reparieren und sie danach wieder mit einer Fahrradpumpe aufpumpen. Das machte er lange Zeit – auch im Winter bei Eis und Schnee, bis er sie endlich austauschen konnte.

Beide Eltern arbeiteten die ganze Zeit; ich vermute, sie hatten nie wirklich viel Schlaf. In jenen Jahren war mein Vater sehr dünn. Wir haben irgendwo ein Bild, das ihn mit einem schlecht sitzenden Anzug auf irgendeiner Straße zeigt. Zwei Damen halfen meiner Mutter im Laden. Eine von ihnen tat das 45 Jahre lang. Jeden Tag stand eine lange Schlange vor dem Laden, um mit ihren Lebensmittelkarten einzukaufen. Geduldig warteten sie darauf, an die Reihe zu kommen. Es gab so viele Kriegerwitwen mit Kindern, viele von ihnen waren Vertriebene aus Ostgebieten, arm und hungrig. Es gab sehr wenig Butter, Margarine oder Öl. Deshalb hatte meine Mutter auf einem langen Regalbrett hinter der Theke drei Reihen mit unzähligen Deckelgläsern. Sie waren mit Namensschildern versehen und Notizen, z.B. „Ehemann tot in Russland, 3 kleine Kinder, Oma krank“ und das Datum, an dem sie das Glas erhalten hatte. Wenn das tierische Fett gekocht wurde und sich verflüssigte, wurden diese Gläser gefüllt und der entsprechenden Kundin überreicht, wenn sie wieder in den Laden kam. Mit dem Fett wurde gekocht, so wie mit Öl. Meine Mutter dachte an die Not und die Lebensgeschichten und gab ihren Kunden viel Extrafleischprodukte, zusätzlich zu den Lebensmittelkarten.

Und das erinnert mich daran, dass wir die Lebensmittelkarten auf Papierbögen kleben mussten. Da es jedoch keinen Klebstoff gab, mussten wir selber welchen machen. Eine kleine Blume, etwas Zucker (unraffinierter) und Wasser, zu einer Paste verrührt und dann wurden mit einer schmalen Bürste die kleinen Quadrate auf das Papier geklebt. Dann wurde gebetet, dass die Sache hielt. Ich habe nie gewusst, wohin diese aufgeklebten Lebensmittelkarten gingen, vielleicht zu einer Regierungsstelle, denke ich, auf alle Fälle habe ich viele aufgeklebt.

Im Sommer 1948 wurde das „neue Geld“, die DM, verteilt. Mein Großvater und ich gingen am Sonntag nach der Kirche zu einer örtlichen Bank und erhielten unseren Familienanteil. 40 DM für jeden Erwachsenen im Austausch zu 40 Reichsmark. Und zwei Monate später noch einmal 20 DM. Altes Geld wurde später anteilig umgetauscht: 100 RM für 6,50 DM. Nach der Angleichung an die neue Währung sprangen auf meinem Sparbuch meine Einlagen auf 3,00 DM – ich war nicht mehr wohlhabend.

Das war in Deutschland das zweite Mal, dass die Leute ihrer Ersparnisse verloren, doch nur dieses Mal verloren viele Menschen ihre Anstellungen, ihr Zuhause, Land und Eigentum dazu. Es war besonders schlimm für ältere Menschen wie meine Großeltern, die ihre Verluste nicht mehr ersetzen konnten. Der gute Teil dieser Reform bestand darin, dass Ludwig Ehrhard, später deutscher Wirtschaftsminister, die Wirtschaft von den Lebensmittelkarten befreite, und plötzlich erschien eine Menge Gebrauchsgüter in den Schaufenstern der Geschäfte. Da gab es Schuhe und Mäntel aber die Leute hatten zu wenig Geld, um sich die Sachen leisten zu können.